Amery, Jean - Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten
Publisher: Szczesny | 1966 | ISBN: N/A | German | PDF | 70 pages | 1.05 Mb
Publisher: Szczesny | 1966 | ISBN: N/A | German | PDF | 70 pages | 1.05 Mb
"Die Essays, die unter dem Buchtitel "Jenseits von Schuld und Sühne" veröffentlicht wurden, erlauben ein Wort wie das von der Bewältigung der Vergangenheit, das sonst so leer klingt. In der unnachgiebigen und zugleich nervös aufmerksamen, an Jean Paul Sartre geschulten Reflexion Amérys wird Erfahrung des vergangenen Erleidens verwandelt in Lernstoff für zukünftiges Leben." Helmut Heißenbüttel
Dieses Buch von Jean Amery mit fünf Essays ist eins der lohnendsten Bücher, die es zum Holocaust gibt.
Und das, obwohl es nicht ganz einfach zu lesen ist. Nicht einfach einmal deshalb, weil Amery sich sehr komplex ausdrückt.
Komplexe Betrachtungen, die zu eigenem Nachdenken anregen, in winzig kleiner Schrift zu lesen, erhöht nicht gerade den Lesegenuß.
Amery hat 1966 das Vorwort zur ersten Ausgabe geschrieben, und 1977, ein Jahr vor seinem Selbstmord, das Vorwort zur Ausgabe 1977.
Im ersten Essay An den Grenzen des Geistes erzählt Amery, wie ein Intellektueller, oder auch geistiger Mensch wie er ihn nennt, es im KZ schwerer hatte als zum Beispiel ein ungebildeter oder einfacher gestrickter Mensch. Und das nicht nur, weil für die Nazis die Intellektuellen ein rotes Tuch waren.
Ein geistiger Mensch litt mehr als ein religiöser oder ideell, idealistisch geprägter Mensch.
Laut Amery halfen einem Gedichte und philosophische Betrachtungen im KZ nichts, wohl aber der Glaube an Gott oder die Gewißheit, daß der Kommunismus auch nach den KZs noch bestehen wird und die Kameraden, Genossen einen schon rächen werden.
Die religiösen und idealistischen Menschen hatten eine Gewißheit, die über sie als Person hinaus reichte, die auch nach ihrem Tod noch Sinn machte, der intellektuelle Zweifler hatte das nicht.
Er wußte oder glaubte zwar, daß die anderen einer Illusion erlagen, aber zumindest einer sehr beruhigenden und hilfreichen. Manches Mal wünschte er sich, er könne auch glauben oder idealistisch sein, und so in einem, seiner Meinung nach illusorischen Wahn, aufgehoben und gerettet sein.
Das waren jedoch nicht die einzigen Schwierigkeiten des geistigen Menschen. Dem geistigen Menschen lag schon allein die KZ-Sprache nicht.
Der KZ-Jargon, der zum großen Teil aus Schimpfwörtern und Fäkalausdrücken bestand, war für den geistigen Menschen eine Qual.
Er brachte es nicht nur nicht fertig, diese Wörter auszusprechen, er litt auch, wenn er sie hörte.
Das machte ihn zum Außenseiter, der die Sprache, die allgemeine Umgangsform des KZs nicht beherrschte.
Im Kapitel Die Tortur geht es um die Folter, die Amery unter dem SS-Mann Arthur Prauss im belgischen Lager Breedonk erlitt.
Das Kapitel ist, obwohl sich Amery mit Rücksicht auf den Leser bewußt kurz faßt, stellenweise schwer zu lesen. Man muß einige Male tief Luft holen.
Dennoch habe ich noch in keinem einzigen Psychologiebuch eine so exakte und komplexe Beschreibung dessen gefunden, was mit jemandem passiert, der geschlagen wird.
Amery faselt nichts von verlorener Menschenwürde und Erniedrigung, er schreibt, daß das Weltvertrauen eines Geschlagenen für immer erschüttert ist. Er wird nie wieder heimisch in der Welt.
Wenn dort jemand ist, der ihn schlagen darf, ohne daß jemand eingreift, wenn der Mitmensch zum Gegenmensch wird, dann kann man in dieser Welt nicht mehr leben.
Von der Hilflosigkeit, die einen ergreift und nie wieder losläßt, ganz zu schweigen.
Der Essay Wieviel Heimat braucht der Mensch? handelt von Heimweh und Heimatlosigkeit.
Den Auftakt biete eine Anekdote um den nach Tessin emigrierten Rainer Maria Rilke. Rilke wird gefragt, ob er denn nicht Heimweh hätte. Woraufhin er antwortet, Ja, bin ich denn ein Jude?
Heimweh, wirkliches Heimweh, sagt Amery, haben nur die, die keine Heimat mehr haben und rückwirkend nie eine hatten, weil ihnen die Heimat abgesprochen wurde.
Sie haben nicht irgendwo ein Land, das sie verlassen haben oder verlassen mußten, vielmehr hat das Land sie verlassen.
Im Essay Ressentiments schreibt Amery über seine nur allzu verständlichen Ressentiments, die er gegenüber Deutschen und Deutschland hat.
In Über Zwang und Unmöglichkeit, Jude zu sein sagt Amery, daß eigentlich erst die Auschwitz-Nummer ihn zum Juden gemacht hat. Vorher war er keiner und noch immer nicht fühlt er sich wie einer.
Wer ein Buch mit klugen Betrachtungen lesen möchte, sollte an Amerys Jenseits von Schuld und Sühne nicht vorbei gehen.